Definition:

Enzymdefekt der Cortisol- und Aldosteronbiosynthese der Nebennierenrinde, in > 90% der Fälle: Defekt der 21-Hydroxylase, seltener: Defekt der 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase und der 11β-Hydroxylase.

Synonyme:

AGS, late onset AGS, angeborene Nebennierenrindenhyperplasie

Formen:

klassisches AGS (mit oder ohne Salzverlust) und nicht-klassisches AGS (late onset AGS)

Symptome:

Klassische Form, Inzidenz 1:11.000:

  • mit Salzverlustsyndrom(kompletter Enzymverlust) : Lebensbedrohliche Salzvelustkrise zwischen der 2. und 3. Lebenswoche mit Exsikkose, Trinkschwäche, Durchfall, Erbrechen, Hyponatriämie, Hyperkaliämie, metabolische Azidose (homozygote Form)
    • Mädchen: Virilisierung, Klitorishypertrophie in 5 verschiedenen Stadien nach Prader. Das innere Genitale ist immer weiblich, die Kinder können aber durchaus als Knaben verkannt werden (Pseudohermaphroditismus femininus).
    • Knaben: bei Geburt unauffällig, evtl. Hyperpigmentierung des Scrotums und/oder Vergrößerung des Penis
  • ohne Salzverlustsyndrom (minimal erhaltene Enzymaktivität, 2-4 % reicht aus, um einen Salzverlust zu verhindern): nur Virilisierung (s.oben)
  • später:
    • Mädchen: Pseudopubertas praecox (vorzeitige Sekundärbehaarung, beschleunigtes Längenwachstum mit vorzeitigem Epiphysenschluss), primäre Amenorrhoe, hypogonadotroper Hypogonadismus, Ausbleiben der Fertilität
    • Knaben: Ausbleiben der Spermatogenese, Hodenatrophie, Oligospermie

Nicht klassische (Late-Onset) Form, Inzidenz 1: 1000:

  • bei Geburt: unauffälliges Genitale
  • vor Pubertät: prämature Pubarche/Adrenarche, Großwuchs, akzeleriertes Knochenalter, leichte Klitorishypertrophie
  • in der Pubertät und im Erwachsenenalter: Hirsutismus, Akne, Alopezie, Zyklusstörungen (> 2 Jahre), Seborrhoe , unerfüllter Kinderwunsch, Hyperandrogenämie, Kleinwuchs, milder Cortisolmangel
  • Asymptomatische Form: „cryptic“-Form: Genträger mit Hormonveränderungen, ohne klinische Symptome

Ursachen:

  • Mutation im 21-Hydroxylase-Gen (CYP21A2) , autosomal rezessiv
  • Betroffene haben immer auf beiden Allelen einen Defekt der 21-Hydroxylase, meist mit unterschiedlichen Mutationen (compound heterozygot)
  • etwa jeder 50. Mensch ist heterozygot für einen 21-Hydroxylase-Mangel und somit Überträger für ein AGS. Sie haben ein gesundes Allel und selber kein AGS.

Pathophysiologie:

  • Alle Enzymdefekte führen zur Störung der Synthese von Cortisol. Der verminderte Cortisol-Spiegel verstärkt die ACTH-Ausschüttung, die wiederrum zur vermehrten Stimulation der adrenalen Steroidsynthese oberhalb des Defekts führt. Es kommt zur Akkumulation von Androgenen (z.B. Testosteron)
  • Häufung bei aschkenasischen Juden, im mediterranen Raum, im mittleren Osten und in Indien

Diagnostik:

  • Klassisches AGS: wird im Rahmen des Neugeborenen-Screenings erfasst, körperliche Untersuchung (Klitorishypertophie), Karyotypisierung in den ersten Lebenstagen, um eine eindeutige Geschlechtszuweisung vornehmen zu können.
  • late-onset-AGS (s. Labor)
  • DD: Polyzystische Ovarien, Androgenproduzierender Tumor (typisch sind extrem hohe Androgenwerte, eine sich rasch entwickelnde Symptomatik)

Labor:

  • Klassische Form: 17-Hydroxyprogesteron ↑ , ACTH ↑, Renin ↑, Cortisol ↓↓,
  • Late onset AGS: Das basale 17-Hydroxyprogesteron ist normal bis leicht erhöht !(↔↑), ACTH ↑, Cortisol (↓), Androstendion↑, DHEA-S ↑, Testosteron ↑,

    • ACTH-Test
      • Basale Messung von Cortisol und 17-OH-Progesteron in der frühen Follikelphase, nüchtern, im Liegen.
      • Bolus 250 µg ACTH i.v.,
      • 60 min nach Injektion zweite Blutentnahme
      • Bei Late-Oncet-AGS: Anstieg des 17-OH-Progesterons um mehr als 2,5 mg/ml. Eine ausreichende Cortisolantwort wird beim stimulierten Cortisol > 20 µg/dl angenommen.
  • Molekulargenetische Diagnosestellung (EDTA-Blut und Einverständniserklärung)
  • Zur Therapiekontrolle: Testosteron/SHBG, Androstendion, 17-OH-Progesteron

Therapie:

  • Bei der klassischen Form: frühzeitige und lebenslange Therapie mit Glukokortikoiden (Hydrocortison) mit Anpassung bei allen Stresssituationen. Beim Salzverlust zusätzliche Gabe von Mineralokortikoiden (Fludrocortison). Die Therapie darf niemals unterbrochen oder abgebrochen werden. Notfallausweis ausstellen.
  • Bei late-oncet-AGS: Die Therapie richtet sich nach der Symptomatik. Asymptomatische Patienten bedürfen keiner Therapie.
    • Therapieziel bei Kinderwunsch: Erreichen eines regelmäßigen Menstruationszyklus Hydrocortison (alternativ Prednisolon)
    • Therapieziel ohne Kinderwunsch: allein oder zusätzlich orale Kontrazeptiva mit gestagener, antiandrogener Partialkomponente (Etynylerstadiol/Cyproteronacetat; Etynylerstadiol/Chlormadinonacetat, Etynylerstadiol/Dienogest)
    • Nach 4-6 Wochen Überprüfung einer Dosisreduktion (Rückgang der Androgenisierung?, fallende Androgenspiegel?)

NB:

  • Normale basale 17-OH-Progesteron-Werte schließen ein late onset-AGS nicht aus.
  • Unbehandelte Patienten mit AGS sind als Kinder groß, als Erwachsene wegen vorzeitigem Epiphysenschluß bei Pseudopubertas praecox – klein
  • gerade leichte Mutationen scheinen mit einer ausgeprägten Symptomatik einherzugehen
  • Bei einem festgestellten Late-oncet-AGS ist eine Untersuchung des Partners wichtig, sowie eine genetische Beratung des Paares bzgl. Auftreten eines klassischen AGS beim Kind und Möglichkeiten der pränatalen Behandlung der Mutter (Ziel: Vermeidung der Virilisierung weiblicher Feten)
  • Während der Glukokortikoid-Therapie in regelmäßigen Abständen prüfen (Gewichtszunahme, Striae der Haut, Hypertonie, Glukosetoleranzstörung, Anzeichen einer Osteoporose)

Literatur:

  • N. Reisch • M. Reincke: Das adrenogenitale Syndrom, Gynäkologe 2012 • 45:355–362
  • Deckwart, V et al.: Bedeutung der Late-onset-Form des adrenogenitalen Syndroms in der Kinderwunschbehandlung. Gynäkologische Endokrinologie 2011, 9, 93-96
  • Cl. Marischler: Endokrinologie, 2007, ISBN: 978-3-437-422669
  • Nawroth & Ziegler: Klinische Endokrinologie und Stoffwechsel, 2001, ISBN: 3-540-64765-1
  • H. G. Dörr: Das adrenogenitale Syndrom (AGS), Klinische Formen, Diagnostik und medikamentöse Therapie, 1998, Gynäkologe 31, 539±548